Nein, wir sind nicht direkt nach Bergamo gefahren. Nicht in die Stadt, die am meisten Leid durch das Virus erfahren hat. Wir verbrachten Pfingsten am Gardasee. In allen anderen Jahren war das die normalste Sache der Welt. Wir wären daher wie üblich nur fröhliche Mikropartikel im Touristenstrom gewesen. Aber dieses 2020 ist eben kein normales Jahr, sondern Coronavirusjahr.
Und weil wir beschlossen hatten, die erste sich bietende Gelegenheit nach dem Lockdown in Italien und nach den Ausgangsbeschränkungen in Bayern zu nutzen, waren wir dieses Mal etwas anderes: Grenzüberschreiter nach vielen Wochen mit geschlossenen Grenzen, Läden, Restaurants und Touristenorten. Außerdem: Botschafter unserer eigenen Coronaerfahrungen und Empfänger der Coronaerzählungen unserer italienischen Freunde aus Desenzano (80 km von Bergamo entfernt).
Maskenträger, überall
Hinfahrt über den Brenner: nichts los, wo ansonsten die Blechlawine rollt. Ankunft im Feriendorf: Unsere kleine Familie gehört zu den ersten Gästen überhaupt in dieser Saison. Die ersten Eindrücke: Die Lombarden tragen Schutzmasken, überall. Auf dem Gehsteig, im Supermarkt und sogar alleine hinter dem Steuer. Die Erklärung unserer Freunde: „Wir tragen überall unsere Masken, weil die Polizei so rigoros kontrolliert hat und jetzt keiner etwas falsch machen will.“
An einem Abend treffen wir Adelia, alleinerziehende Mutter, Schulpsychologin, zusammenlebend mit ihrem fast volljährigen Sohn und der über 80-jährigen Mutter in Desenzano. Wir schildern unsere ersten Eindrücke: Die Masken, ja. Aber auch: Der See so sauber wie nie, ungetrübter Blick bis zum Grund, Fische sogar nah am Ufer, keinerlei Motorbootlärm, ein Traum. Adelia: „Ja, das stimmt. Aber ich sehe diese Schönheit und bin noch gar nicht so bereit, das wirklich aufzunehmen und zu genießen.“
Adelias Familie hat die schlimme Corona-Anfangszeit heil überstanden. Aber sie kennt näherstehende Familien, die Tote zu beklagen hatten. Je näher der Tod durch Corona in das eigene Leben gerückt ist, desto gedämpfter scheinen wir als Menschen in der unmittelbar folgenden Gegenwart zu agieren. Das erscheint logisch. Aber gleichzeitig wurde ich mir in dem Gespräch mit Adina sicher: Sie würde sich niemals protestierend auf die Straße stellen und die Erfinder der Corona-Beschränkungen lauthals Lügner nennen. Corona war da und hat tiefe Spuren hinterlassen. Der Lockdown hat spürbar Besserung gebracht, wenngleich er auch Teile der Wirtschaft ruiniert. Aber das Coronagespenst geistert in der Vorstellung weiter durch die engen Gassen.
Das Virus in den Medien: Italien hatte offenbar keinen Prof. Drosten
Dieses Virus ist für die meisten von uns schwer zu verstehen. Und unsere italienischen Freunde sagten, es sei in ihrem Land auch kaum ausführlich erklärt worden. Ein Beispiel: Als wir den jungen Eheleuten Nicholas und Maria von unserem Virusexperten Prof. Drosten aus Berlin erzählten, gerieten sie ins Grübeln. Nein, einen seriösen Wissenschaftler hätten die heimischen Medien in der schweren Zeit nicht breit ins Rampenlicht gestellt. Das Hineinreichen der Wissenschaft ins alltägliche Leben sei in Italia ihrer Meinung nach quasi nicht existent. Ich fragte mich angesichts dessen: Ist es nicht so viel besser, einem streitbaren Experten zuhören zu können, als gar keinem?
Tatsächlich ist ja unklar, wann und ob überhaupt einmal alles wieder so wird wie zuvor. Als Freunde unserer italienischen Freunde wünschen wir uns, dass die Tourismusbranche wieder aufblüht in ihrem Land – Nicholas hat eine kleine Craft-Beer-Brauerei in San Felice miteröffnet und deutsche Touristen sind herzlich zur Bierprobe eingeladen. Nur mit lebendigem Zustrom kann auch der Bierumsatz wachsen.
Ein Gefühl wie Zeitreisende
Aber als Liebhaber der Natur und Landschaft am Gardasee genossen wir die für uns womöglich einmalige Gelegenheit. Die erholte Seekulisse erleben in den allerersten Tagen der Öffnung, nach vielen Wochen ohne jeglichen Betrieb, ohne Schifffahrt, ohne Flugzeuge in der Luft, so wie Zeitreisende, die zurück in die 1920er Jahre verfrachtet worden sind. Das war wirklich besonders.
Wie wahrscheinlich alle Familien auf dieser Erde hoffen wir natürlich, dass dieses Virus besiegt wird. Weil wir unser Leben nicht trübselig (oder sogar angsterfüllt) im Lockdown leben wollen, sondern lieber mühselig in Freiheit. Eine Freiheit, in der wir abhängig davon sind, wie unsere nationale Politik und Medien agieren. Und die es uns aber zum Glück ermöglicht, über die Grenze zu fahren und die Geschichte einer Krise aus anderer Perspektive zu hören.

